Miriam Cahn – Schweizer Urgewalt

Das genaue Hinschauen – so ist die Ausstellung von Miriam Cahn im Kunsthaus Bregenz überschrieben, eine Aufforderung zu erhöhter Aufmerksamkeit. Gilt dies nicht immer für eine Kunstausstellung oder erwarten uns Vexierbilder und wir dürfen unseren Augen nicht trauen? 

Auf Augenhöhe sind die Fotografien im DIN-A4-Format an die Wand des Erdgeschosses geheftet. Teilweise wurden die Reproduktionen mit Farbe bearbeitet und zeigen Frauenkörper in kräftigen Farben und derber Pinselführung. Geschlechtsmerkmale treten exponiert in den Vordergrund, die Gesichter bleiben meist verwischt und unpersönlich. Moral in der Kunst gibt es für Cahn nicht, nur das Thema, das sie bewegt. Jahrgang 1949 Basel, ausgestattet mit einer bildungsbürgerlichen depressiven Familiengeschichte und einer Graphik-Ausbildung an der Schule für Gestaltung Basel, wendet sie sich mit unbändiger Energie der Kunst zu. Frau sein, leben und arbeiten wie ein Mann. Diesen Standpunkt vertritt sie konsequent und füllt das Kunsthaus Bregenz mit ihrer kraftvollen Kunstsprache. Cahn zeigt unmissverständlich und derb, was ihr wichtig ist und was sie zeigen will. Da die Abzüge der weiblichen Akte nicht allzu groß sind, muss man in dem weiten Raum nah herantreten, aber geheimnisvoll behaftet sind sie nicht. Die sexuellen Ansichten schreien einem entgegen. Der Ursprung der Welt von Gustave Courbet treibt Cahn an, ihr Blick auf die Sexualität setzt einen starken Akzent. Nicht rätselhaft und verwunschen, sondern direkt und klar ist ihr Motto. Die drastischen Geschlechtsteile sind fordernd, sie kehren die Blickrichtung um. 

Im ersten Stockwerk sind Schwarz-Weiß-Zeichnungen nach Mappen geordnet auf dem Fußboden ausgelegt. Schnell und teilweise mit geschlossenen Augen mussten die Arbeiten aus ihr heraus – Tiere, Figuren und Pflanzen – hingeworfen in einem kreativen Schöpfungsakt.

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Im zweiten Stockwerk hängen wie Theaterkulissen große Pergamente mit Kreidezeichnungen im Raum. Die grafischen Arbeiten aus den 1980er Jahren demonstrieren ihre Sicht auf die Unterschiedlichkeit der männlichen und weiblichen Lebenswelten, die nebeneinander existieren.

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h-schiff (W + H), 1982

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Im dritten Geschoss schließlich ihre farbigen Gemälde mit politischen, sexuellen und tagesaktuellen Themen – im Meer versinkende Flüchtlinge, Gewalt und Sex. Cahn malt, was sie packt und kehrt Klischees der Geschlechter gerne brutal um, masturbierende und zuschlagende Frauen sind eine Tatsache.

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Bloß nicht gefällig werden. Ihr Feminismus ist ursprünglich, nichts ist gekünstelt – selbstbestimmtes Leben und keine Interpretation. Feminismus als persönliche Gesellschaftskritik, Menschen nicht auf Rollen festgelegt, in der Kunst alles zulassen, dafür tritt die Schweizerin Miriam Cahn kompromisslos mit all ihrer Stärke ein. Heute mögen viele junge Frauen keinen Kampfanzug mehr anziehen, um ihre Eigenständigkeit klarzustellen, eine Spitzenbluse ist kein Signal der Nettigkeit mehr. Auf Partneranzeigen, die den Wunsch nach lieben und netten Frauen, schlanken normalen Mädchen, einfachen, bodenständigen oder deutlich jüngeren Frauen äußern, antwortet Cahns Kunst für ein weitaus spannenderes Leben voll Kraft und Energie. 

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Fundstücke aus der „Schwäbischen Zeitung“

Eine deutlichere kuratierende Hand im Kunsthaus würde vielleicht das Abenteuer moderne Kunst sachkundiger gestalten. Für ein Video mit Kopfhörern stehen zuwenige zweckmäßige Plätze vor einem kleinen Bildschirm im Erdgeschoss bereit, das Untergeschoß wird ungenutzt zum Toilettenvorraum degradiert. Erkundet man die Ausstellung individuell, so teilt ein elegantes bebildertes Begleitheftchen den Betrachtenden einige Kernaussagen zu.  

Noch bis zum 30. Juni, freier Eintritt ins Kunsthaus jeden ersten Freitag des Monats.

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