Als Ingolstadt noch eine Universität beheimatete (1800 wurde sie nach Landshut und später nach München verlagert) entstand das beachtenswerte Anatomiegebäude (18.Jh.) in der Nähe der alten Stadtmauer. Von der Straßenseite sieht man ein Gebäude mit großen Fenstern, einem höherem Mittelteil mit seitlichen niedrigen Geschossen, symmetrisch durch Pilaster gliedert und in die angrenzende Bebauung eingefügt. Von hier aus ist kaum zu erahnen, wie aufwendig und reizvoll die Architektur zur Gartenseite beeindruckt. Aus der schlossartigen Zweiflügelanlage tritt der hohe Mittelbau des Anatomiesaals als runde Apsis hervor. Ein Arkadengang öffnet sich in ganzer Breite zum Garten und verbindet die zwei vortretenden Flügelbauten miteinander. Der vorgelagerte symmetrisch angelegte Arzneigarten mit Brunnen versetzt uns in einen Hortus conclusus. In dieser abgeschirmteren Idylle lädt heute ein kleines Café zum Verweilen ein und nichts erinnert mehr an die Leichenschau vergangener Jahrhunderte.
Die notwendigen Auflagen der Denkmalpflege erschweren die Instandsetzung der alten Anatomie und den Abschluss der Bauarbeiten. Dennoch kann zur Zeit in dem schon fertiggestellten modernen Anbau eine kleine Sammlung von Gemälden aus dem Bestand betrachtet werden. Radikal analog ist dieser Einblick in die Sammlung des Deutschen Medizinhistorischen Museums überschrieben. Die Wände des fensterlosen Raumes sind mit Metallgittern bestückt, an denen dicht an dicht die Bilder hängen. Es entsteht der Eindruck einer unfertigen Depothängung, die der reinen Aufbewahrung dient. Der spröden Atmosphäre begegnet man mit einem Begleitheftchen, das man beim Lösen der Eintrittskarte erhält. Hier finden sich einige Eckdaten zu den durchnummerierten Objekten. Bei einem ersten kurzen Rundumblick fallen die vielen konventionellen Porträtbilder neben unterschiedlichsten Motiven auf. In dieser Umgebung fühlt man sich zum Kurator berufen, weniger zum begeisterten Besucher. Was macht man mit dieser ungeordneten Ansammlung, um sie unterhaltsam und informativ dem Gast anzubieten? Ein kenntnisreicher oder neugieriger Besucher kann vielleicht einige eigene Überraschungen aufdecken oder Wissen zutage fördern. Ein Bezug zur Medizin ist programmatisch, aber erschließt sich nicht ohne weiteres. Exemplarisch:
Christoph Schwarz` (1548-1592) Warnung vor der venerischen Krankheit (Syphilis) will den Übertragungsweg der Krankheit abbilden. Das reine Wasser entspringt der Quelle, wird dann durch einen urinierenden Hund verunreinigt und fließt zu einem Jüngling, der so die Krankheitserreger beim Trinken zu sich nimmt. Der Gelehrte in der Mitte des Bildes stehend verweist auf die Situation, die lautenspielende Dame am linken Bildrand auf die Gefahren durch die sexuelle Liebe. Der Arzt Girolamo Fracastoro (1477-1553) beschrieb die Krankheit in seinem Lehrgedicht Syphilis sive morbus Gallicus und legte damit den Namen fest. Die Malerei des ausgestellten Bildes ist von der italienischen, besonders der venezianischen Formensprache beeinflusst. Auch die Nähe zu Friedrich Sustris kommt in Betracht, da die Komposition dessen Bildes nahezu identisch wirkt. Eine Druckgraphik des selben Themas von Johannes Sadeler (1560-1600), die sich auch in der Sammlung von Ingolstadt befinden soll, wäre eine gute Ergänzung.
Das Portät von Walter Nernst (1864-1941), der 1920 den Nobelpreis für Chemie erhielt, regt an, sich mit der Person zu befassen. Als Professor an der Berliner Universität formulierte er den Dritten Hauptsatz der Thermodynamik und entwickelte die Nernstlampe, die bei Siemens ein großer Verkaufsschlager wurde. Allerdings setzte er sich im 1. Weltkrieg auch für chemische Kampfstoffe ein und unterstützte das Kampfgeschehen. Der nationalsozialistischen Bewegung schloss er sich jedoch nicht an. Das hier gezeigte Portät (um 1905) schuf Victoria Zaeslein-Brenda (1870-1930). Im Vergleich zu Max Liebermanns bekannterem Gemälde zeigt sie den ca. zehn Jahre jüngeren Nernst stehend und mit entschiedenem Blick. Sie gehörte zu den Künstlerinnen, die am 3. Internationalen Frauenkongress 1904 in Berlin teilnahm (ein Foto zeigt sie während einer Kunstausstellung im Letteverein). Verheiratet mit dem Kunsthändler Ernst Zaeslein (1863-1918 Zürich), der 1898 eine Galerie in Berlin (Leipziger Straße 128) eröffnete, war sie sicherlich in der Stadt gut vernetzt. Im Bunsen-Magazin (7. Jahrgang, 6/2005, Seite 178) wird das Gemälde noch als verschollen verzeichnet.
Die Aquarelle der Krankenporträts von Carl Friedrich Sandhaas (1801-1859), die den Zustand der Leiden des Menschen abbilden sollen und zur Illustration für die medizinische Diagnose dienten, sind ein Beispiel spätromantischer Malerei. Heute sucht man beim Betrachten der abgebildeten Personen weniger nach den medizinischen Symptomen als nach den menschlichen Geschichten und Leidenswegen, die uns die Porträts erzählen können.
Von den knapp 100 in der Ausstellung zugänglichen Bildern könnten viele Impulse ausgehen. Sie ansprechend und lebendig anzubieten wird der zukünftigen Dauerausstellung sicherlich glücken, auch wenn es sich nicht um Meisterwerke handelt. Zur Zeit fordert „radikal analog“ den persönlichen Forscherdrang – man will nicht so sehr den kleinsten gemeinsamen Nenner finden, sondern dem Einzelnen nachspüren. Mit Spannung lässt sich erwarten, was dem Provisorium folgt.