Das sympathische Grenoble

Grenoble ist distinguiert, man protzt nicht, obwohl man es könnte; schön gelassen und freundlich gibt sich die Stadt. Richtungsweisend steht die schlanke Tour Perret als Symbol im Zentrum von Grenoble. Diese frühe Stahlbetonarchitektur von Auguste Perret (1874–1954, namhaft verbunden mit dem Wiederaufbau von Le Havre nach den Kriegszerstörungen) gilt als Bezwingung der Höhe. Der 90 Meter hohe Turm in Grenoble war 1925 der höchste seiner Zeit und diente als reiner Aussichtsturm für die Ausstellung

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Plakat von Andry-Farcy

L’Exposition internationale de la houille blanche et du tourisme – saubere Energie durch Wasserkraft. Der Mast mit acht aufgesetzten Pilastern schnellt in die Höhe. Einfache runde Betonscheiben formieren den Sockel, die Aussichtsplattform greift vereinfacht die Idee eines Tempiettos auf, die Spitze nimmt sich zurück und ist dennoch ein Leuchtturm in der Landschaft. Zwei Fahrstühle transportierten die Besucher bequem zum Auskuck, der einen herrlichen Rundblick bot, von hier aus sollten sie das großartige Alpenpanorama und die Stadt mit ihrem innovativen Potenzial erleben. Gleichzeitig galt es, eine Akzeptanz für das Material Beton in der Bevölkerung zu wecken, um so für die geplanten Bauten der Vorstädte zu werben. Mit sauberer Energie für wirtschaftlichen Erfolg gepaart mit erholsamen Tourismus wollte sich Grenoble in den Alpen empfehlen. Der Turm überlebte als einziger Zeuge die legendäre Ausstellung neuster Ingenieurskunst.


Quelle: In Situ – Revue des patrimoines

IMG_20180907_100656~2.jpgNoch beherrscht der heute gesperrte Turm die Parkanlage Mistral und animiert die Spaziergänger, ihren Blick zu heben und an ihm entlangzugleiten; so lenkt er noch immer den Blick auf das schöne Gebirgspanorama. Nähert man sich jedoch dem Monument, so verblasst die ursprüngliche Kultiviertheit. Von Wind und Wetter angeknabbert bietet der grazile Stahlbetonturm heute einen jämmerlichen Anblick. Seit Jahrzehnten ringt die Stadtverwaltung um die dringende Restaurierung des historisch bedeutenden Denkmals, jedoch die Umsetzung will nicht gelingen.

Dieser Turm symbolisiert die moderne Zeitenwende, die der sozialistische Bürgermeister Paul Mistral (1872–1932) anstieß. Mistral setzte sich mit großem Engagement für eine komfortablere Stadtstruktur im Dienste aller Bewohner ein. Er gewann die Vertreter der Wirtschaft und Universität als Unterstützer für seine Bestrebungen, bessere hygienische Lebens- und Arbeitsbedingungen einzuführen. Zwischen 1866–1893 waren in der Region 25000–32000 Arbeitskräfte in der Handschuhindustrie tätig. Nach dem 1. Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise kam die Handschuhfabrikation fast vollständig zum Erliegen, nur wenige Betriebe konnten sich mit neuen Produkten auf dem Markt behaupten (z. B. Pierre Raymond, Erfinder des Druckknopfes). Neue Wirtschaftssektoren mussten erschlossen werden. Mauern und Schutzwälle sicherten Grenoble als bedeutende Festungsstadt, hielten aber die Gemeinde wie in einem Steinkorsett gefangen und ließen keiner städtebaulichen Erweiterung Raum. 1910 dominierten ca. 10000 Soldaten die Bevölkerungszahl von ca. 80000 Einwohnern. Erst die Erfahrungen des ersten Weltkrieges zeigten, dass die historische Belagerungsstrategie ausgedient hatte, und so gelang es Mistral nach zähen Verhandlungen dem Militär große Stadtgebiete abzuringen und einige Stadtflächen vom Kriegsministerium zu erhalten. Die Wasserkraft – weiße Energie 1869 von Aristide Bergès – brachte den neuen industriellen Umbruch für Grenoble – Papiermühlen, metallverarbeitende Gewerbe und die Elektroindustrie gewannen an Einfluss. Der Stadtplaner und Architekten Léon Jaussely, der sich durch die Erweiterung Barcelonas Anerkennung erworben hatte, legte das Konzept für die Wirtschaftsausstellung vor. Durch den Erfolg der Messe bekam Grenoble die erforderliche Unterstützung, um die städtebaulichen Veränderungen in Schwung zu bringen. Nicht alle Planungen Léon Jausselys ließen sich sofort verwirklichen. Erst die Olympischen Winterspiele 1968 setzen die Stadterneuerung fort und die Aktivitäten dauern noch an, die Lebensqualität für die Bewohner zu steigern. Die heutige lebendige Universitätsstadt mit gutem öffentlichen Verkehrsverbund und ausgebauten Fahrradwegen auf den breiten Boulevards lädt zum entspannten Erkunden der einzelnen Quartiere ein.

Von 1932 bis 1942 entstanden an den neu angelegten Boulevards große elegante Unterkünfte. Das Wohnhaus Le Gambetta–Rivet, Boulevard Gambetta 61, 63, 65 und Place Gustave–Rivet 2, 4, 6 von Georges Serbonnet ist das erste Bauwerk, das 193437 im Rahmen der Boulevard-Bebauung entstand. Wie eine riesige Kommode mit unzähligen Schubfächern beansprucht der weiß verputzte Betonbau seinen repräsentativen Platz. Fenster und Balkone werden als Dekorelemente verstanden. Zwei kannelierte Lisenen zentrieren den leicht zurückgezogenen Mittelteil, ihre abschließenden ägyptischen Kapitelle können als Blumenkübel benutzt werden und sollten mit immergrünen Pflanzen die phantastische Ansicht noch steigern.

Während die Wohnhäuser bis Anfang der 1940er Jahre weiterhin eine sehr reliefartige Fassadengestaltung bevorzugten, um mit der wechselnden Wirkung von Licht und Schatten zu spielen, bricht das Immeuble le Mercure, rue Colonel–Dumont 6 von 1949 mit dieser Tradition.

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Immeuble Le Mercure, 1949

Die sachliche Formensprache macht das Fenster zum Thema. Die komplette filigrane Sprossenverglasung zieht sich in einem sanften Schwung um die frontale Gebäudehaut. Hier herrscht Transparenz für gut beleuchtete Arbeitsplätze. Die private Einheit tritt hinter die Gesamtanlage zurück. Integrierte Markisen ließen sich bei zu starker Sonneneinstrahlung ausfahren. Mit drei freistehen Seiten beansprucht das Geschäftshaus seine Geltung. Das sechste und siebente Stockwerk enden an der Seitenfront auf halber Länge, zusammen mit dem leicht zurückgesetzten Penthouse modellieren sich die Umrisse weich und vermeiden die Wirkung einer kantigen Schachtel.

Auch der aktuelle Wohnungsbau bemüht sich in der stetig wachsenden Stadt mit Anspruch eine zeitgemäße Wohnqualität zu erreichen. Am Quai de la Graille in Grenoble unternimmt man den Versuch, ein Neubauwohnviertel in einen Zusammenhang zu stellen und doch jedem Haus eine Besonderheit zu geben. Manche Balkone wirken wie Baumpilze am Stamm (R2K Architectes), andere flechten eine Netzstruktur davor oder verschieben die Schichten der Etagen (ECDM Architectes).

astudejaoublie.blogspot.comGrenoble – Eglise Saint–Jean, ursprünglicher Zustand; viele Bilder auf: astudejaoublie.blogspot.com
Wie ein gelandetes Ufo steht die ungewöhnlicher Kirche Saint–Jean am Boulevard Joseph–Vallier 14. Die ursprüngliche einfache Form einer runden freistehenden Schale auf einem kleinen Sockel, verstärkt von schlanken Stützen und einer geschwungenen Rampe, erfuhr eine massive Verfremdung. Das heutige gefaltete Dach mit der aufgesetzten Fensterkrone und Kreuz wurde erst nach einer sanierenden Baumaßnahme hinzugefügt. 1965 sah die Kirche wie ein Tajine-Topf aus, mit einer glatten runden Dachverschalung und nur einem kronenförmigen Tambour, der mit einem Helikopter aufgesetzt werden musste. Maurice Blanc (1924–1988) und René Sarger (1917–1988) gelten als verantwortlich für diese experimentelle Nachkriegsarchitektur. Der Durchmesser beträgt 37 Meter und der Raum bot 1300 Personen Platz. Leider erwies sich die Dachkonstruktion bald als nicht sonderlich solide. 1967 drang Wasser ein und die hölzernen Dachstreben verzogen sich. 1977 entschied man sich zu dem heutigem veränderten Umbau.

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Noch immer steht die Kirchenschüssel absonderlich in der Gegend, das stimmig-futuristische Design einer Veranstaltungshalle ging bei der Renovierung leider teilweise verloren. Der spitze Fensterkranz mit plakativem Kreuz brachten einen vertrauteren, aber biederen Kirchenanspruch in das Gebäude. Auch hier nagt der Zahn der Zeit unversehen, die Kirche wird selten genutzt; mit etwas Glück lässt sich an einem Samstag zur Messezeit ein kurzer Blick hineinwerfen.

IMG_20180909_092421~2.jpgDas Mercure-Hotel Grenoble Alpotel entstand 1968 zu den Olympischen Spielen und wurde auch von dem Architekten und zeitweiligen Stadtrat Maurice Blanc und Jacques Rome entworfen. Trotz einiger modernisierender Veränderungen ist der Rhythmus der Fassade noch erhalten. Sich nach oben verjüngende vorgesetzte Betonpfeiler mit einem abschließenden massiven Architrav bilden das Stützwerks vor den luftigen Fensterrahmen des Eingangsgeschosses. Die darüber folgenden zwei Bauabschnitte unterscheiden sich vehement. Die vier anschließenden Geschosse mit dünnen Fensterrahmen und einer durchgehenden Verglasung beherbergen ein Hotel, darüber schließen sich fünf Stockwerke an, die als eigenständiges Wohnhaus genutzt werden. In der vertikalen Linienführung treten nun skulpturale Betonornamente in messingfarbenen aufsteigenden Lisenen hervor, die die Wohnungen zwischen den einzelnen Balkonen rhythmisieren. Die harmonische Kombination zwischen Geschäfts- und Wohnhaus spiegelt sich nicht nur visuell wider, sondern vertritt auch einen sensiblen und lebendigen Umgang in der Stadtbebauung.

IMG_20180907_111500.jpgDem kleinen aber wichtigen Resistancemuseum – Musée de la Résistance et de la Déportation – Maison des Droits de l’Homme – gelingt es, das Leben und Leiden der Franzosen unter dem Druck ihrer deutschen Besatzer packend zu dokumentieren. Der Rundgang schildert in örtlichen Gegebenheiten von Grenoble den Versuch, sich im Krieg zu behaupten. Wir lernen mutige Privatpersonen kennen, die sich aus den unterschiedlichsten Beweggründen zu Widerstandsgruppen zusammenschlossen und sich mit abenteuerlichen Mitteln und Methoden für ihr unterdrücktes Land einsetzten. Marie Renoard stand einer Widerstandsgruppe vor, deren geheime Treffen in einer anschaulichen Stuhlkreisinstallation die komplizierte Aktionsmöglichkeiten von Verschwiegenheit und Vertrauen nachempfinden lässt. Nach vielen gelungenen Aktionen fand Renoard grausam im Konzentrationslager Ravensbrück den Tod. Die Erläuterungstexte sind in Französisch und Deutsch verfasst.

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Das neue Kunstmuseum bietet eine Sammlung, die viele Wünsche erfüllt. Die klassische Moderne ist bestens vertreten und nicht nur quantitativ ausgestellt, die Räume sind geschmackvoll arrangiert.

Bedeutender Anteil an dieser Sammlung ist auf den 1919–1949 als Kurator tätigen Andry- Farcy (1882–1950) zurückzuführen. Als ausgebildeter Illustrator und Werbegraphiker (er entwarf auch das Plakat für die Ausstellung Exposition internationale de la houille blanche) nutzte er seine guten Beziehungen zur Presse, um für sein Museum zu werben und die jungen Künstler zu fördern. Er war mit vielen Malern bekannt und mit dem Ehepaar Marcel Sembat (1862–1922) und Georgette Agutte (1867–1922) befreundet, die Ihre Sammlung dem Museum vermachten. Nachdem Sembart verstarb führte Agutte ihre Werke in wenigen Stunden dem Museum von Grenoble zu und schied durch Suizid aus dem Leben. So findet sich hier eine wunderbare Sammlung der klassischen Moderne; strahlende Werke, die in Grenoble ein Heim fanden.

Die Intentionen der unterschiedlichen Kunstströmungen verdichtet sich leicht in der empfindsam zusammengestellten Kunstsammlung. Auch die Malerei der Provinz und Stadt Grenoble sind gut vertreten. Gerade der Einblick in die lokale Kunstauffassung verleiht Museen oft eine interessant-individuelle Atmosphäre. Neben dem bekannten internationalen Geschmack der Kunstwerke erzählen ortsansässige Künstler viel über die Lebenswelt der Bewohner. Pater Laurent Guétal (1841–1892) erwarb sich eine nicht unerhebliche Bewunderung für seine Landschaftsbilder. Zusammen mit Ernest Victor Hareux und Charles Bertier gehörte er der Dauphinoise-Schule an. Sein Grab auf dem Grenobler Friedhof Saint-Roch, mit Abendmalskelch und Malerpalette geschmückt, bringt die Vereinbarkeit seiner Lebenswelten zusammen. Studien vor Ort und erste Fotographien flossen zur Anfertigung seiner riesigen Landschafts-Ölbilder zusammen. Die gewaltige Schöpfung der Natur einzufangen, diese Kraft und Schönheit auf die Leinwand zu bannen, beeindruckt die Betrachter noch heut. Eines seiner berühmtesten Gemälde, Le Lac de l’Eychauda, wurde 1886 im Pariser Salon ausgezeichnet und für die Weltausstellung 1889 ausgewählt, bevor es für das Genobler Museum angekauft wurde. Die Sogkraft der klaren Bergluft weckt das Verlangen, hinauszudrängen in die menschenleere Natur.

Leicht und verspielt gleiten die Gondeln der Seilbahn der Téléphérique wie Blasen auf den Berg. Die Kugeln schweben über die Isère auf die Bastille, das ist kein gewöhnliches Massentransportmittel, der Genuss des Schwebens in luftiger Höhe wird zelebriert. Die wenigen Passagiere sitzen auf kleinen Klappbrettern mit dem Rücken um die Mittelhalterung, sehr dicht Seit‘ an Seit‘ und schauen nur vom Glas umfangen in die Weite und Tiefe. Der Spaß einer Karussellfahrt stellt sich ein, Rekorde sind uninteressant. Schon 1934 wurde die erste Seilbahn errichtet. Paul Michaud, Tourismussekretär und Bürgermeister Paul Mistral wollten eine bequeme Möglichkeit anbieten, die Freizeit für Touristen und die arbeitende Bewohner in gesunder Bergluft zu verbringen. Das Fort de la Bastille auf dem Gipfel zeigt noch seine raue Bestimmung, aber heute lässt sich zwischen den Resten der gemauerten Fortifikationen herrlich klettern, speisen oder die weite Aussicht auf die Stadt und die Bergkette genießen. In Grenoble gibt es viel zu entdecken, der Blick muss es nur finden.

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www.grenoble-tourisme.com

Miniguide: Ein Wochenende in … Grenoble

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