Giuseppe (Pino) Pizzigoni in Bergamo

Bergamo in Norditalien ist ein Pilgerort für Architekturbegeisterte. Städteplaner schwärmen von der Kombination aus Ober- und Unterstadt, Architekten und Bauhistoriker von der Baukunst des 19. Jahrhunderts – ebenso beachtenswert die faschistische Gestaltungsweise bis hinein in die Moderne. Hier liegt das Wirkungsfeld des Architekten Giuseppe (Pino) Pizzigoni (1901-1967 Bergamo). Seine individuellen Bauten verströmen eine kantige aber leidenschaftliche Kraft, die vom Aufbruch kündet. Es ist jedoch gar nicht so leicht, auf den Spuren dieses vielfältigen und ausdrucksstarken Architekten die Stadt zu durchstreifen und die noch erhaltenen Gebäude zu finden. Hinweise auf seine wichtigsten Projekte fehlen und die Touristeninformation gibt sich unwissend. Langsam fördern einzelne Bauhistoriker die verwaisten Schätze der modernen italienischen Baukunst wieder zu Tage, das Interesse wächst und mit Schwung wird auch Pizzigoni wieder neu entdeckt werden. Martin Freisinger gab mit seiner Arbeit Italomoderne Architektur in Oberitalien 1942-1976 einen entscheidenden Impuls. 2017 fand schließlich in Bergamo eine Konferenz zu Pizzigonis Architekturen statt.

Nur wenige Fahrminuten aus dem Stadtzentrum entfernt steht in einem ruhigen Wohnviertel Pizzigonis exzentrische Kirche Chiesa della Beata Vergine Immacolata in der Via Guglielmo Mattioli 57 –  heute kurz Chiesa Longuelo genannt. Sie entstand in den Jahren 1961-65 (29. Juni 1966 von Erzbischof Clemente Gaddi geweiht) und ist im Grunde der letzte große Entwurf dieses freidenkenden Architekten. Konfrontiert mit dieser kraftvoll gewagten Kirchenkonstruktion wird die Neugier befeuert, mehr über diesen Baukünstler zu erfahren.

Pizzigoni (Studium in Mailand) gehörte zu jenen Architekten, der die Bautätigkeit in Italien im Zusammenhang mit den sich ständig verändernden Lebensumständen begriff. Zwei Weltkriege mit ihren gesellschaftlichen Umwälzungen mussten auch im Städtebau zu sichtbaren Konsequenzen führen. Mit großer Wachheit verfolgte Pizzigoni die europäischen und internationalen Fortschritte und Entwicklungen; veränderte Materialien gaben ebenso Impulse für seine Arbeit, wie die Ideen des funktionalistischen Weimarer Bauhauses und eines Bruno Taut.

Pizzigoni: Skizze zu Chiesa Longuelo, Quelle: LombardiaBeniCulturali

Stahl und Beton kamen nach 1945 immer mehr zur Anwendung (Italcementi hatte seit 1846 den Firmensitz in Bergamo). Die damit verbundenen neuen bautechnischen Möglichkeiten spornten Pizzigoni an, die Formengestaltung der Kirchenhülle bis zum Äußersten auszureizen und auf dem 1960 noch unerschlossenem freien Feld weit entfernt von der Stadt eine spektakuläre neue Gemeindekirche entstehen zu lassen.

Chiesa Longuelo während der Bauphase, Quelle: wikimedia.org

Die Zeltkonstruktion die diesem Entwurf zugrunde liegt erschließt sich leicht. Vier aufgespannte Flächen – Betonschalen –  werden von zwanzig frei verlaufenden oder geknickten Betonpfeilern getragen, sie stützen das Zeltgewölbe, das in einem zentralen Punkt zusammen trifft. Die Inspiration entnahm Pizzigoni dem Alten Testament – Moses Zelt der Begegnung (2. Mose, Kapitel 33), das außerhalb des Lagers aufgeschlagen wurde, um dort mit Gott Ansprache halten zu können. Dieser religiöse Geist sollte lebendig werden, nicht eine überkommene Formtradition. Dem konstruktivistischen Kirchenhaus wird überraschend eine imponierend flächige Kirchenfassade vorgesetzt, ein unerwartetes Zusammenspiel, das verwirrt und zu einer ungewöhnlichen Anmutung der Kirche beiträgt. Die hochaufragende leicht konkave Betonparabel – eine organisch Zunge – baut sich vor dem Besucher auf. Durch die Wiederholung einer kleinen Parabel, die den Torbogen beschreibt, verstärkt sich die Wirkung eines gedehnten Organismus, im dem die dunkle eiserne Eingangstür wie eine respektfordernde Mulde wirkt. Die eingelegten farbigen Glasmosaiken, die die Tür durchbrechen, können nur von innen als ein Bild erkannt werden, ihre auflockernde Wirkung hat somit für die Aussenansicht keine Bedeutung. Scheu nähert man sich dem Portal – stehen wir hier der imaginären Wolkensäule gegenüber, in der sich Gott Moses vor dem Zelt näherte oder dem Symbol einer riesigen Schutzmantelmadonna? Die Geometrie wird zum Bedeutungsträger.

Von Anbeginn der Planung stieß Pizzigonis Entwurf nicht nur auf Begeisterung und auch heute wird die wieder instandgesetzte Architektur nicht von allen geliebt oder als angemessen angesehen, denn noch immer akzentuiert diese kühne Kirche – nicht vollständig freistehend aber raumgreifend – das sie umgebende Neubaugebiet. Zwei Pfeiler rahmen in ganzer Höhe den mit dunklen Schieferplatten verkleideten Chor zu einem spitzen Dreieck. An dieser Rückansicht sticht die hier angelegte entgegengesetzte Parabelkrümmung aus dem Gebäude heraus und drängt sich energiegeladen wie eine Sprungschanze in das gegenüber liegende Fußballfeld. Das Kraftfeld wird aus dem Gebäude heraus gepresst.IMG_20180619_101814~2.jpg

Der wiederhergestellte reine weiße Sichtbeton macht diese einmalige rebellische  Konstruktion von tragenden Stützen, aufgespannten Flächen und auflockernden Durchblicken erst möglich. Zusätzliche Farbe am Außenbau sowie im Innenraum würde den aufgefalteten Gesamteindruck stören. Mit Liebreiz und Vertraulichkeit wird der Kirchgänger nicht zu der glückseligen unbefleckten Jungfrau angezogen: die direkte Konfrontation mit dem Eingang verlangt Entschlossenheit. Auch die technische Beherrschtheit im Inneren verursacht anfangs eine verhaltene Orientierung. Ein Zentralbau aus aufgespannten Segeln, eine Höhle; die Fenster, zurückhaltend als Oberlichte möglichst unsichtbar angelegt, sollen das Licht indirekt und geheimnisvoll einfallen lassen und zur Andacht anleiten.

Kein Schmuck stört den Blick, nur ein flaches kegelförmiges weißes Madonnenrelief mit dem empfangenen Christuskind auf dem Leib von Dietelmo Pievani, sowie ein Tabernakel von Claudio Nani und Altar werden gebraucht. Weil die Kosten für den Bau ausuferten und am Ende mit 75 Millionen Lira doppelt soviel wie geplant benötigt wurde und so die Kritik an Pizzigoni zunahm, entschloss er sich, die Kosten für die Madonnenskulptur selbst zu tragen und durch die Veröffentlichung eines Aufsatzes in dem Magazin L’industria italiana del cemento (10,1967,S.709,2.14) die kritischen Stimmen gegen ihn und das Bauvorhaben durch professionelle Anerkennung zu beruhigen. Dennoch meinten Kritiker, Beton fehle der Sinn zur Freude. Doch freudlos ist diese Architektur nicht, die Konstruktion ist lebendig und dynamisch, Pfeiler und aufgespannte Flächen stehen in einem ausgewogenen elastischem Spannungsverhältnis – in einen Ruhezustand wie in Abrahams Schoss wird man allerdings nicht versetzt. Der Raum fordert Aufmerksamkeit und verweigert Passivität, ein inspirierendes Bewusstsein begleitet die Meditation. Sanfte Aufbruchstimmung kündet in der Geburtshalle die Ankunft des himmlischen Königs an.

Sakralbauten waren eher die Ausnahme unter Pizzigonis Projekten. Sein Hauptarbeitsfeld lag auf Profanbauten und Privathäusern.

Aufgespannte Betonflächen entsprachen dem Zeitgeist, der Philips-Pavillon, ein spektakuläres Beispiel auf der Expo Brüssel 1958 von Le Corbusier, setzte Maßstäbe, die auch Pizzigoni bewegten. Experimente mit dünnen Gewölben in Stahlbeton, geschwungenen und gekrümmten Kompositionen und kleineren Zeltdachkonstruktionen führte er zuerst am Bauernhof der Familie in Zandobbio (1956-60), der Molkerei und Käserei in Torrepallavicina (1960-64) und einer Schule im Bezirk Monterosso 1965 aus.

Oberlichter lenkten die Helligkeit in sein avantgardistisches Minimalhaus von 1946, ein Prototyp eines einfachen Einfamilienhauses, das nach dem Krieg die Wohnungsnot der armen Bevölkerung lindern sollte. Eine revolutionäre Idee auf kleiner Grundfläche, kompakt mit sechs Schlafstellen, Kochnische, Bad (der größte Teil der Bevölkerung musste noch öffentliche Bäder nutzen) und kleinem Garten. Seine Gebäude sollten Verantwortung für ihre Aufgaben und Benutzer übernehmen.



Quelle: COSE DI BERGAMO

Auch Grabstätten auf dem Friedhof von Bergamo gab Pizzigoni eine neue Gestalt. Die zwei rationalistischen Grabmale von 1947, Capella Ardiani und Capella Baj sind besonders extravagant, sie künden von Aufbruchsstimmung und Veränderung, die mit dem Tod nicht abreißen sollte, auch die Verstorbenen nehmen an dem Wandel der Zeit teil. Die Funktion einer Grabkapelle wird zwar erfüllt, die Bauten emanzipieren sich jedoch zu Großskulpturen, selbstbewusst und eigenständig  – Monumente eines unangepassten Zeitgeistes.

Quelle: Luciano Motta: Le tombe di Pizzigoni al Cimitero di Bergamo

Mit dem Ferienhaus für seinen Künstlerfreund Claudio Nani in den Bergen bei Parre (BG) erlangte Pizzigoni 1964 besondere Beachtung. Auf einem Hausteinfundament sitzt der eigentliche Wohnkörper. Einzelne Zimmer mit großen Fenstern strecken sich wie Kameraobjektive jeweils in eine andere Richtung der hügeligen Landschaft. Jeder Raum fängt ein anderes Bild ein, das die einmalige Schönheit und Heiterkeit der Natur erfahren lässt. Der gewählte Ausschnitt fokussiert und steigert die Sinneswahrnehmung an der Vegetation.

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Casa Nani in Parre (BG)

Die Verknüpfung von Kunst und Ingenieurswissen wies Pizzigoni oft den Weg zu seinen besonderen Ergebnissen. Er begann früh zu zeichnen und nahm professionellen Unterricht, bevor er sich dem Architekturstudium zuwandte. Zeit seines Lebens war er den Künsten verbunden. Beeindruckende Entwurfszeichnungen zeugen von einer großen Freude und Begabung, die angestrebten Ideen auf Papier umzusetzen.

Da er während der faschistischen Herrschaft in Italien nicht in die Partei eintrat, musste er sich während der Kriegsjahre mit kleineren Arbeiten zufrieden geben und blieb von großen Ausschreibungen ausgeschlossen. Seine Überzeugungen und Anschauungen von einer modernen Architektur legte er weiterhin in theoretischen Abhandlungen nieder und griff nach dem Krieg die hinzugewonnenen Erkenntnissen in der Praxis auf.

Als junger Architekt begann Pizzigoni  seine ersten Bauten noch im Stil des Neohistorismus. Das Haus für den Vater 1925-27 (Viale Vittorio Emanuele II 70) in Bergamo zeigt die Formen einer großbürgerlichen Stadtvilla – geprägt durch seine eigenwillige Handschrift. Beim Betreten des Grundstückes umfängt den Besucher ein hohes abgestuftes Amphitheater, das es zu erklimmen gilt um die Villa betreten zu können, repräsentativ umarmt oder umzingelt. Zu spüren sind noch die Grundsätze des Novecento von Giovanni Muzio (1893-1982), klassische Elemente so zu vereinfachen und zu modernisieren, dass ein bürgerlich-würdiger Bau errichtet werde.

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Muzio, Sironi, Pizzigoni (Pressa, 1928)

Pizzigoni kannte Giovanni Muzio und arbeitet mit ihm und Mario Sironi an dem italienischen Pavillon („robust, lokal, vielleicht rau, aber überzeugend“) auf der Medien-Messe Pressa in Köln 1928, der neoklassizistisch ausgerichtet war. Während Muzios und Sironis Formverständnis in Zukunft mit den Gedanken Mussolinis übereinstimmten, fand Pizzigoni wohl Interesse an anderen ästhetischen Ideen.

Die damals bahnbrechende Kölner Messe Pressa brachte weltweit die neusten Strömungen im Bereich Print, Foto, Film – als ebenso herausragend galt die Architektur der Pavillons und deren Gestaltung. El Lissitzkys Pavillon der Sowjetunion begeisterte mit revolutionärem Formverständnis, hierin fand Pizzigoni neue Anregungen, die er in sein weiteres Schaffen mit einfließen ließ.

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Lissitzky-Pavillon, Pressa 1928

Pino Pizzigoni ist ein Pionier in Bergamo. Seine Architekturen brachten eine neue Sichtweise für Form und Konstruktion in die Provinz, die Türen aufstieß.


Wim van den Bergh & Luciano Motta erstellten 2011 eine gute Dokumentation aller Werke Pizzigonis. Anhand ihrer Karten kann man eine spannende Entdeckungstour auf den Spuren Pino Pizzigonis beginnen.

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Wim van den Bergh & Luciano Motta: Pizzigonis Bauten in Bergamo.

  • [1] 1925/27 Villa for his father, Viale Vittorio Emanuele II, 70, Bergamo.
  • [2] 1929/31 Casa Beratto, Via Monte Ortigara, 5, Bergamo.
  • [3] 1929/30 Casa Traversi, Via Borgo Palazzo, 33, Bergamo.
  • [4] 1931 Villa-studio for painter Romualdo Locatelli, Corso Monte Orsarola, 45, Bergamo.
  • [5] 1935/37 Casa Cubo, Via Monte Ortigara, 35, Bergamo.
  • [6] 1946 Casa minima unifamiliare, Piazzale Lodovico Goisis, 5, Bergamo.
  • [7A] 1947 Cappella Baj, Cimitero Monumentale, Bergamo.
  • [7B] 1947 Cappella Ardiani, Cimitero Monumentale, Bergamo.
  • [7C] 1950 Cappella Traversi, Cimitero Monumentale, Bergamo.
  • [7D] 1956 Cappella Billi, Cimitero Monumentale, Bergamo.
  • [8] 1949 Case Fanfani, INA-Casa, Via della Fara, 5, Bergamo.
  • [10] 1950 Casa da appartementi, Via Giuseppe Garibaldi, 16, Bergamo.
  • [12] 1954/55 Villa Lubrina, Viale Vittorio Emanuele II, 73, Bergamo.
  • [13] 1959/64 Extension of the Teatro Donizzetti, Piazza Cavour, 14, Bergamo.
  • [16] 1956/66 Istituto Tecnico Industriale di Stato, Via Mauro Gavazzeni, 29, Bergamo.
  • [17] 1957/59 Casa Colombo, Via Masone, 24, Bergamo.
  • [18] 1957 Industria Marmi C.Comana, Via Costanza Cerioli, 56, Seriate (BG).
  • [19] 1959/65 Asili CEP Monterosso, Via Caio Giulio Cesare, Bergamo.
  • [21] 1960/63 Chiesa di Santa Maria Immacolata, Longuelo, Via Mattioli, 57, Bergamo.
  • [22] 1960/64 Apartment building „Pagoda“, Conca d’Oro, Viale Vittorio Emanuele II, 44, Bergamo.
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Wim van den Bergh & Luciano Motta: Pizzigonis Bauten in der Umgebung von Bergamo.

  • [9] 1949 Teatro-oratorio, Sala Eden, Via Bergamo, 9, Bergamo.
  • [11] 1954 Casa Bosis, Via Roma, 10, Tavernola Bergamasca (BG).
  • [14] 1956/60 Scuola elementare, Via Pagliaro, 1, Rota Imagna (BG).
  • [15] 1956/60 Experimental concrete constructions, Località Gabbione, Zandobio/Gorlago (BG).
  • [20] 1960/64 Porcilaie, Via Torre/Via Sante Giulie, Torrepallavicina (BG).
  • [23] 1962/65 Municipio di Zandobbio, Via Rivi/Via Monte Grappa, Zandobbio (BG).
  • [24] 1964 Casa Gilberti, Via Roma, Pontenossa (BG).
  • [25] 1964 Casa Claudio Nani, Sant’Alberto-Grumella, Parre (BG).
  • [X] 1932 Site of the demolished Villa Rinaldi-Ardiani, Corso Monte Rosa, 15, Selvino (BG).

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2 Kommentare

  1. Sehr schöner Artikel. Zwei Bilder (die Grabkappellen) sind aus dem Vortrag “Le tombe di Pizzigoni al Cimitero di Bergamo”, von Luciano Motta, publiziert von OAB (Architektenkammer Bergamo) in architettibergamo.it, 2017. Es wäre korrekt die Quelle in ihrem Artikel zu erwähnen.
    Mit freundlichen Grüßen,
    Luciano Motta

    motta@wohnbau.arch.rwth-aachen.de

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  2. Vielen Dank für Ihren Kommentar, ich habe den Quellenhinweis zu Ihren Bildern eingefügt.
    Mit freundlichen Grüßen
    Andrea Rosemann

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